NS-Verbrechen am 8. Oktober 1939 in Schwetz (Świecie)

Am Culm gegenüberliegenden, westlichen Weichselufer erstreckt sich die Kreisstadt Schwetz (poln. Świecie), die 1938 von 8513 Menschen bewohnt wurde. Der Anteil der deutschstämmigen Bevölkerung in der Stadt betrug im Jahr 1934 6,5%. Im gesamten Kreisgebiet lebten fünf Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 70620 Personen polnischer Nationalität, 13691 waren deutscher Herkunft und 211 jüdischen Glaubens[1]. In den Vorkriegsjahren entwickelte sich im Kreis Schwetz eine Ortsgruppe der NSDAP, die im Juli 1937 51 Mitglieder zählte. An Parteiveranstaltungen nahmen im Frühjahr 1938 über 100 Personen teil[2].

Ähnlich wie in Culm vollzog sich auch in Schwetz nach der Einnahme des Kreisgebiets durch die Wehrmacht Anfang September 1939 rasch der Aufbau des nationalsozialistischen Machtapparats. Von den Besatzern durchgeführte Verhaftungen und Erschießungen von Teilen der einheimischen, polnischen und jüdischen, Bevölkerung sind als prägende Vorgänge während der ersten Monaten der Besatzung nach dem Krieg eingehend untersucht worden. Besonders bemerkenswert ist ein schriftlicher Zeugenbericht über einen Massenmord auf dem jüdischen Friedhof von Schwetz am 8. Oktober 1939. Bemerkenswert deshalb, weil er vom Kompanieführer der 3. Kompanie der Krankentransport-Abteilung 581 der deutschen Wehrmacht stammt, die in dieser Zeit in Schwetz stationiert war, und an Hitler gerichtet ist. Das Dokument hat folgenden Inhalt:

An den obersten Befehlshaber der Wehrmacht und Führer des Deutschen Volkes Adolf Hitler. Auf dem militärischen Dienstwege! Ich melde: Am Sonntag, den 8. Oktober 1939 gegen 13 Uhr berichteten mir der Unteroffizier Kleegraf, Gefreiter Kluge sowie der Gefreite Roschinski im Beisein aller Kompanieoffiziere (Stabsarzt Dr. Frenz, Stabsarzt Dr. Witte, Stabsarzt Dr. Bertram, Assistenzarzt Dr. Jürgens, Assistenzarzt Dr. Laarmann, Unterarzt Strausberg) was folgt: Sie seien am Sonntag, den 8 Okt. gegen 9.30 Uhr etwa 150 Wehrmachtskameraden auf dem Judenfriedhof in Schwetz Augenzeugen der standrechtlichen Erschiessung von etwa 20-30 Polen gewesen. Die Exekution sei ausgeführt worden von einer Abteilung, bestehend aus einem Angehörigen der Schutzstaffel, zwei Männern in alter blauer Schupouniform und einem Mann in Zivilkleidern. Die Aufsicht habe ein Sturmbannführer der Schutzstaffel geführt. Es seien bei der Exekution auch 5-6 Kinder im Alter von etwa 2-8 Jahren erschossen worden. Die Obengenannten sind bereit, ihre Aussagen zu beeiden, gez. Dr. Möller, Oberstabsarzt der Reserve und Kompanieführer[3]

Einen genauen Eindruck von diesem Massenmord vermittelt die Schilderung des in der Meldung genannten Gefreiten Kluge:

Am Samstag den 7.10.1939 hörte ich bei einem Rundgang durch die Stadt bei Gesprächen unter Kameraden, daß am Vormittag auf dem Judenfriedhof in Schw. eine größere Zahl Polen erschossen worden seien; und daß am Sonntagmorgen nochmals eine Erschießung stattfinden sollte. Das Gespräch über die bevorstehende Erschießung war unter den in Schw. untergebrachten Soldaten allgemein. Infolgedessen begab ich mich am Sonntagmorgen mit dem größten Teil meiner Kameraden zum Judenfriedhof, wo wir bis 9 Uhr erstmals vergebens warteten. Wir wollten uns schon wieder in unsere Quartiere begeben, als ein größerer Autobus, beladen mit Frauen und Kindern, zum Friedhof hineinfuhr. Wir gingen nun wieder zum Friedhof zurück. Wir sahen dann, wie eine Gruppe von einer Frau und drei Kindern, die Kinder im Alter von etwa drei bis acht Jahren, von dem Omnibus zu einem ausgeschaufelten Grab von 8 m Breite und 8 m Länge hingeführt wurden. Die Frau mußte in dieses Grab hinabsteigen und nahm dabei ihr jüngstes Kind auf dem Arm mit. Die beiden anderen Kinder wurden ihr von zwei Männern des Ex. Kdos. gereicht. Die Frau mußte sich bäuchlings, d.h. mit dem Gesicht zur Erde, flach ins Grab legen, ihre drei Kinder zur Linken in derselben Weise angereiht. – Danach stiegen vier Mann ebenfalls in das Grab, legten ihre Gewehre so an, daß die Mündungen etwa 30 cm vom Genick entfernt waren, und erschossen auf diese Weise die Frau mit ihren drei Kindern. Ich wurde dann aufgefordert v. d. aufs. führenden St. Bannf., mit zuschaufeln zu helfen. Ich kam diesem Befehl nach und konnte daher aus nächster Nähe jedes Mal sehen, wie die nächsten Gruppen Frauen und Kinder in derselben Weise erschossen wurden. Im ganzen 9-10 Frauen und Kinder, jedesmal zu vieren in demselben Massengrab. Der Erschießung sahen in einer Entfernung von ca. 30 m etwa 200 Soldaten der Wehrmacht zu. Etwas später kam ein zweiter Omnibus mit Männern auf den Friedhof gefahren, darunter befand sich noch eine Frau. Diese Männer mußten in das Grab, in dem die frischen Leichen nur notdürftig mit Sand zugestreut lagen, steigen, sich bäuchlings der Länge nach hinlegen, wo sie dann von den vier Männern des Kds. durch Genickschuß erledigt wurden. Im ganzen wurden an diesem Morgen etwa 28 Frauen, 25 Männer und 10 Kinder im Alter von 3-8 Jahren erschossen.[4]

Die Exekutionen werden der SS unter Befehl der Sturmbannführer Meier und Tietzmann zugeschrieben[5]. Am 7. Oktober, den der Gefreite Kluge zu Beginn seiner Schilderung erwähnt, waren über 20 jüdische Personen, die zuvor im Gefängnis beim Gericht festgehalten worden waren, von SS- und SA-Angehörigen durch die Straßen der Altstadt zum jüdischen Friedhof getrieben worden, der sich an der ul. Polna befand. Nachdem die Gefangenen gezwungen worden waren, ihr eigenes, zweieinhalb Meter breites und zwei Meter tiefes, Grab mit einer Länge von 17 Metern auszuheben, mussten sich jeweils vier Personen in das Grab hineinlegen und wurden erschossen. An dieser Hinrichtung, die von Soldaten der Wehrmacht beobachtet wurde, nahm neben den Deutschen in SS- und SA-Uniformen auf Anordnung eines SS-Offiziers auch ein Wehrmachtsangehöriger teil. Der Soldat Fritz Brauner bestätigte am 9. Februar 1946 in seiner Aussage vor einem Gericht in Recklinghausen, dass er dabei vier Menschen tötete. Die übrigen Soldaten weigerten sich, an der Exekution teilzunehmen, teilweise sollen sie offen ihre Empörung geäußert haben[6].

Angesichts der Erschießung der Kinder war der verbrecherische Charakter der Tat mehr als offensichtlich. Das Propagandagetöse, mit dem in den besetzten Gebieten Polens kaltblütige Morde an der einheimischen Bevölkerung oftmals als gerechte Bestrafung für vermeintliche Gewaltakte gegenüber Deutschen dargestellt wurden, musste spätestens an diesem Tag bei den zuschauenden Wehrmachtssoldaten in Schwetz im Nichts verhallen. Zu mehr als einem Protestschreiben, nachdem man sich das sonntägliche Schauspiel unter aktiver Teilnahme eines Kameraden hatte bieten lassen, waren die Soldaten dieser Einheit jedoch nicht bereit.

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Quellen:
[1] Wojciechowski, Mieczysław: Świecie w latach 1939-1945 (Schwetz in den Jahren 1939-1945), in: Miasta Pomorza Nadwiślańskiego i Kujaw w okresie I wojny światowej oraz w międzywojennym dwudziestoleciu (1914-1939). Zbiór studiów. Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika, Toruń 2000, S. 148 f.
[2] Wojciechowski, Świecie w latach 1920-1939, S. 188 f.
[3] Dieses Dokument wird mit Erläuterungen wiedergegeben in Bojarksa, Barbara: Zbrodnie niemieckie na terenie powiatu Świecie nad Wisłą (Deutsche Verbrechen auf dem Gebiet des Kreises Schwetz an der Weichsel), in: Przegląd Zachodni, Band 21 (1965); S. 96-118, S. 109
[4] Die Aussage Kluges wird im Wortlaut dargestellt in Madajczyk, Czesław: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945, Pahl-Rugenstein Verlag; Köln 1988, S. 15 f; Die Meldung der 3. Kompanie des Armeekrankentransports 581 lag dem Oberkommando des Heeres am 11. Oktober 1939 vor.
[5] Madajczyk, S. 15
[6] Bojarksa, Zbrodnie niemieckie …, S. 108 f

[Erstveröffentlichung dieses Beitrags: 26.11.2004]